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Ohne Ehrgeiz geht es nicht. Schüler bei einer Prüfung.

© picture alliance / dpa

Berliner Schüler ohne Abschluss: Das eigentliche Problem heißt nicht Mathematik

Viele Jugendliche in Berlin machen keinen Abschluss. Deshalb müssen die Familien in die Pflicht genommen werden. Gefakte Abschlusszeugnisse helfen niemandem. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Susanne Vieth-Entus

Es ist ein ziemliches Kunststück, in Berlin keinen Schulabschluss zu bekommen. 100 Brücken baut der Senat den jungen Leuten, damit sie bloß irgendein Papier nach Hause tragen können, das dann Berufsbildungsreife oder Mittlerer Schulabschluss heißt. Eine Nachprüfungsmöglichkeit jagt die nächste, um doch noch irgendwie die Kurve zu kriegen. Jetzt wurde offenbar erneut das Aufgabenniveau in zentralen Prüfungen gesenkt, damit noch ein paar Schüler mehr über die entscheidenden Hürden kommen. Immer in der Hoffnung, dass es ein paar weniger Schüler sein mögen, die durch alle Netze fallen.

Das Aufgabenniveau wurde offenbar gesenkt

Berlins Schulen haben nur noch ein mildes Lächeln für diese Art der Bemühungen übrig. Denn sie wissen, dass es oftmals nicht die Mathematikaufgaben sind, an denen etliche ihrer Schüler scheitern, sondern ganz einfach die fehlende Bereitschaft, überhaupt in der Schule zu erscheinen. Alle publikumswirksamen Initiativen gegen Schwänzer verlaufen im Sande, weil die vollmundigen Sanktionen nicht greifen: Die Ordnungsämter sind gar nicht imstande, sich gegen tausende Familien durchzusetzen, die entschlossen sind, am Staat vorbeizuleben.
Hier wartet eine schöne Aufgabe auf den künftigen Senat, der im Herbst gewählt wird: herauszufinden, wie er jene Schüler erreichen kann, die eine derart offene Beziehung zu ihrer Schule pflegen, dass sie sich von ihr noch nicht einmal ein Abschlusszeugnis hinterherwerfen lassen wollen.

Das eigentliche Problem sind die Dauerschwänzer

Ein Neuköllner Schulleiter, der schon seit 20 Jahren über diese Frage nachdenkt, empfiehlt, ein Anreizsystem zu schaffen: Familien sollten eine Art Pflichtenheft führen und einen Aufschlag auf ihr Hartz-IV-Budget bekommen, falls sie das schulische Vorankommen ihrer Kinder unterstützen. Wenn nichts helfe, müsse man die Kinder aus den Familien herausnehmen, nennt er als denkbare Notlösung. Was nach Law-and-Order klingt, ist nichts anderes als die logische Konsequenz aus der Beobachtung, dass selbst Bataillone von Sozialarbeitern, Lehrern und Lesepaten an ihre Grenzen stoßen, wenn sie es mit Familien zu tun haben, die ihre Schuldistanz bereits in der zweiten oder dritten Generationen pflegen. Zumal diese Schicht nicht kleiner, sondern eher größer wird: Von Jahr zu Jahr wächst der Anteil der Kinder, die aus Sozialtransferfamilien kommen und überhaupt nicht mehr wissen, wie das überhaupt geht: morgens aufstehen, sich anstrengen, eigenes Geld verdienen.

Die Eltern müssen in die Pflicht genommen werden

Berlin kommt aber ohne diese abdriftende Schicht nicht über die Runden. Schon jetzt bleiben 30 Prozent der Ausbildungsbetriebe überhaupt ohne einen einzigen Bewerber. Längst sind sie so weit, auf Abschlusszeugnisse zu verzichten, wenn sie nur sehen, dass die jungen Leute, die dann doch den Weg zu ihnen finden, zumindest ausbildungswillig und -fähig sind.
Eine Mathe-Fünf ist für die Betriebe viel leichter zu verschmerzen als die fehlende Bereitschaft, morgens pünktlich im Betrieb zu erscheinen. Was die Betriebe und die Jugendlichen brauchen, sind darum keine gefakten Abschlusszeugnisse, auch keine Gefälligkeitszensuren, sondern einzig und allein Familien, die an ihre Pflichten erinnert werden. Vielleicht mit einem Pflichtenheft.

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