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Links der Zustand 2016, rechts die Brücke vor 100 Jahren.

© Kai-Uwe Heinrich, promo/Märkisches Museum

Berlin-Mitte: Die Leere im Zentrum: Bürger fordern Aufbau der Waisenbrücke

Erich Kästner widmete sich dem Bauwerk, das einst die Spree querte und 1960 verschwand. Es gibt viele Befürworter und auch ein Fest der Unterstützer im Märkischen Museum.

In diesem Augenblick hörten beide einen Schuss und einen Aufschrei, und kurz danach drei Schüsse aus anderer Richtung. Labude rannte ins Dunkel, die Brücke entlang, auf das Museum zu. Wieder klang ein Schuss. ,Viel Spaß!‘, sagte Fabian zu sich selber, während er lief, und suchte, obwohl sein Herz schmerzte, Labude zu erreichen.“

Das ist aus Erich Kästners Roman „Fabian“ von 1931, ein „Zweikampf am Märkischen Museum“, wie es in der Kapitelüberschrift heißt. Ein Kommunist und ein Nazi schießen sich gegenseitig Löcher in Wade und Hintern und werden danach von Titelheld Fabian und seinem Freund Labude per Taxi ins nächste Krankenhaus expediert – ein kleines Exempel für den damals tobenden Krieg zwischen links und rechts. Der Tatort ist noch heute lokalisierbar: Einer der Schützen kauert „am Fuße des märkischen Roland“, aber wo ist da eine Brücke, die den Fluss genau am Museum überquert? Die Jannowitzbrücke ist 150 Meter entfernt.

Unsere Slideshow: So sah die Waisenbrücke 1928 aus

Dort fehlt eben etwas im Stadtbild, und dies seit Jahrzehnten: die alte Waisenbrücke, über die Kästner seine Romanfiguren eilen ließ, die er sicher selbst oft überquert hat und unzählige Berliner ebenso. Und über die einmal wieder Menschen flanieren sollen, dem historischen Stadtbild zuliebe und um den Kiez rund ums Museum und den angrenzenden Köllnischen Park, einst ein quirliges Geschäftsviertel, „wieder besser mit der Stadtmitte zu verbinden“ – jedenfalls wünscht man sich das so im Stadtmuseum Berlin, das die erhoffte „Neue Waisenbrücke“ daher zum Thema seiner diesjährigen Sommerakademie gewählt hat, diverse Vorträge und einen Brückenskulptur-Workshop inklusive.

„Mit der neuen Brücke wären das Klosterviertel, das Nikolaiviertel und das Humboldt-Forum fußläufig erreichbar und zugleich an den Spreeweg Berliner Urstromtal angeschlossen, der wegen der südlichen Uferbebauung an dieser Stelle den Fluss überqueren muss“, wird für den Brückenschlag geworben.

Die Waisenbrücke.
Die Waisenbrücke.

© Stadtmuseum Berlin

Etwa an der Stelle der späteren Waisenbrücke befand sich ursprünglich der Oberbaum, eine nachts durch einen Baumstamm geschlossene Zollsperre auf der Spree, die später an die Stelle der heutigen Oberbaumbrücke verlegt wurde. Als erste Verbindung zwischen Berlin auf der nördlichen Spreeseite und der neu entstandenen Siedlung Neu-Cölln- am-Wasser auf der südlichen wurde Anfang des 18. Jahrhunderts eine auf Pfählen im Wasser stehende Holzbrücke errichtet. Sie hieß zunächst Blocksbrücke, seit 1701 dann Waisenbrücke, nach einem in der Nähe gelegenen, zwei Jahrhunderte später abgerissenen Waisenhaus, an das noch heute die Waisenstraße erinnert.

Am Ufer ist der Brückenansatz noch gut zu erkennen.
Am Ufer ist der Brückenansatz noch gut zu erkennen.

© Kai-Uwe Heinrich

Ort der erbitterten Kämpfe

Die marode gewordene Holzbrücke wurde 1831 durch einen wiederum hölzernen Neubau ersetzt, erst zwischen 1892 und 1894 – die Zuständigkeit für Berlins Brücken war vom preußischen Staat auf die Stadt übergegangen – entstand die steinerne Brücke, über die Erich Kästner seinen Fabian eilen ließ. Mit drei massiven Bögen überspannte sie die Spree, gebaut im romanischen Stil und verkleidet mit rotem Mainsandstein. Halbkreisförmige Erker über den Flusspfeilern luden zum Verweilen ein und breite Gehwege zum Flanieren. Dadurch belebte sich zugleich das Viertel um den Köllnischen Park und entlang der Wallstraße, wo neue Geschäftshäuser entstanden, etwa das Kaufhaus Neu-Kölln zwischen Museum und Spree.

Doch war die alte Waisenbrücke nicht nur ein Ort der Idylle, sondern ebenso erbitterter Kämpfe. Während der Berliner Märzkämpfe 1919, mit über 1200 Toten einer der blutigsten Konflikte der damaligen revolutionären Auseinandersetzungen, machte der Stab der Volksmarinedivision das nahe Marinehaus zu seinem Hauptquartier, blockierte die Waisenbrücke zur Abwehr von Freikorps und Regierungstruppen mit Barrikaden und Maschinengewehren, letztlich ohne Erfolg. Die Revolutionäre wurden zusammengeschossen oder hingerichtet, auch das Marinehaus war einer der Schauplätze, woran eine Gedenktafel erinnert.

Die Waisenbrücke.
Die Waisenbrücke.

© Stadtmuseum Berlin.

Die Bombardements im Zweiten Weltkrieg überstand die Brücke ohne Schäden, erst beim Kampf um Berlin wurde der südliche Brückenbogen durch deutsche Sprengkommandos zerstört, schon bald nach der Kapitulation aber von den Sowjets durch eine Notbrücke ersetzt. Ab 1949 führten die Gleise einer Behelfsbahn direkt zur Brücke, von der die zertrümmerten Gebäude aus Friedrichshain und Mitte in Lastkähne gekippt und abtransportiert wurden. Danach wurde die Brücke noch einmal gründlich repariert, 1960/61 aber komplett abgetragen, da sie der Binnenschifffahrt mittlerweile im Wege war. Große Schleppzüge passten kaum noch durch. Seither erinnert nur noch der mit einem Geländer gesicherte Brückenstumpf gegenüber dem Museum an das alte Bauwerk.

Einen ersten Entwurf gibt es bereits

Ob es einmal eine neue Brücke geben wird? Vorerst sicher nicht. Zur Zeit sei ein Neubau nicht vorgesehen und es gebe auch keine „benennbare Realisierungsperspektive“, heißt es aus der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. So schön die Idee einer fußläufigen Verbindung zwischen den beiden ehemaligen Altstadtquartieren auch sei, „aber Brücken müssen dort errichtet werden, wo sie zur Lösung dringender Verkehrsprobleme notwendig sind, und im Moment steht die Sanierung unserer vorhandenen Brückenbauwerke erst einmal im Vordergrund.“

Immerhin, einen ersten Entwurf gibt es, ersonnen von den beiden jungen Architekten Detlev Kerkow und Tom Walter, Absolventen der Beuth Hochschule für Technik in Berlin. Sie hatten sich dies zum Thema ihrer Abschlussarbeit gewählt und eine Doppellösung aus einer in moderatem Zickzack sich über die Spree schwingenen Betonbrücke und einem parallelen Holzsteg vorgeschlagen. Fragt sich nur, ob ein einziger Name für diese Zwillingsbrücke dann noch genügt.

Die Sommerakademie im und am Märkischen Museum findet seit diesem Wochenende bis 14. Juli statt, jeweils ab 13 Uhr: Berliner Künstler vom Projekt „change exchange“ malen und zeichnen gemeinsam mit Schülern des Gymnasiums Tiergarten ihre Vision der verschwundenen Brücke. Wer sich selbst zum Brückenbauer berufen fühlt, kann an einem Workshop teilnehmen und unter Anleitung zweier Architekten aus farbigen Hölzern eine Brückenskulptur bauen ( 10. Juli, 14-17 Uhr, 16. Juli, 14-19 Uhr). Weiter gibt es Vorträge und am 16. Juli, 18 Uhr, das Museumsfest. Weitere Infos unter www.stadtmuseum.de sowie unter Tel. 24002-162.

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