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Die T-Shirts in Helmut Hochschilds Reinickendorfer Büro stammen aus seiner Zeit an der Paul-Löbe- und an der Rütli-Schule. Heute bildet der 59-Jährige Lehrer aus.

© Susanne Vieth-Entus

Berlin: 10 Jahre Rütli-Brandbrief: „Die Mischung ist noch nicht ideal“

Helmut Hochschild wurde an die Rütli-Schule geholt, als die Lage eskaliert war. Schon damals forderte er die Abschaffung der Hauptschulen.

Kurz nach dem Rütli-Schock 2006 hatten Sie das Berliner Schulsystem als „krank“ bezeichnet und eine integrative Schulform gefordert. Inzwischen gibt es zwar Integrative Sekundarschulen, aber etliche werden weiterhin gemieden. Haben wir immer noch „Restschulen“?

Davon kann keine Rede sein, weil – anders als früher bei den Hauptschulen – nicht nur acht Prozent eines Jahrganges in einer Schulform landen, sondern die Hälfte.

Aber etliche Sekundarschulen ohne Oberstufe haben kaum Anmeldungen: Hier sammeln sich dann die Schwächsten, die woanders nicht unterkommen.

Das stimmt. Bei einigen der Sekundarschulen ist die Mischung nicht ideal. Darum werden auch an einigen von ihnen Anträge für zusätzliche gymnasiale Oberstufen gestellt oder die Zusammenarbeit mit benachbarten Gymnasien verstärkt.

Aber dies könnte doch auf Kosten der berufsorientierten Oberstufenzentren gehen, zu denen die Sekundarschüler eigentlich nach der 10. Klasse wechseln sollten.

Damit muss man rechnen. Aber für die Eltern sind diese Kooperationen offenbar nicht greifbar genug. Sie wollen ein Abiturangebot an ihrer eigenen Schule oder zumindest eine elfte Klasse als direkte Hinführung zum Abitur. Die trotzdem sinnvolle Kooperation mit den beruflichen Schulen müsste daher ebenfalls weiter gestärkt werden.

Ungeachtet der Sekundarschulen mit ihren Ganztagsangeboten schaffen viele Jugendliche keinen Schulabschluss. Es geht in dieser Hinsicht nicht wirklich voran.

Das ist leider so. Aber immerhin haben die Schüler heute wegen des demografischen Wandels mehr Chancen, den beruflichen Übergang zu schaffen, weil Nachwuchs gebraucht wird. Wenn wir es schaffen, die Schüler früh mit Unternehmen zusammenzubringen, haben wir eine Win-win-Situation.

Viele Schüler gehen aber schon vorher verloren, weil sie abrutschen. Schulen allein können es nicht schaffen, diese Schüler zurückzuholen und im System zu halten.

Seit 2008 gibt es Clearingrunden, in denen die Schulleitungen zusammen mit Vertretern des Jugendamtes, der Schulpsychologie, der Polizei und teilweise auch der Justiz oder dem Jobcenter unterstützende Maßnahmen für diese abrutschenden Jugendlichen suchen und oft auch finden. Das ist ein erfolgreiches Setting.

Offenbar klappt die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt nicht immer so wie gewünscht.

Das stimmt. Aber daran kann man arbeiten. Gerade hatten wir für die Referendare einen Fachtag zur Prävention. Ein Workshoptitel lautete: „Was Sie schon immer über das Jugendamt wissen wollten“. Es ist ganz wichtig, dass die Lehrer wissen, wo sie Hilfe finden. Die Institutionen müssen viel stärker zusammenarbeiten. Das gilt auch für den Kinder- und Jugend-Gesundheitsdienst: Lehrer sollten wissen, was ihren Schülern fehlt, um besser unterstützen zu können. Aber die Informationen kommen nicht an.

Meist wird bei dieser Debatte auf den Datenschutz als Hemmnis verwiesen.

In Schweden habe ich erlebt, dass Krankenschwestern zum Schulpersonal gehörten. Die haben Reihenuntersuchungen vorgenommen. Wenn sie Anzeichen von Krankheit, Vernachlässigung oder Gewalt feststellten, konnten die Sozialarbeiter direkt den Kontakt zu den Eltern suchen. So muss es gehen. Es müssen schnelle, verlässliche Kommunikationswege aufgebaut werden.

In einer Hellersdorfer Schule taucht immer wieder ein 14-jähriger ehemaliger Schüler auf, der gewalttätig wird. Die Eltern sind kaum greifbar. Wenn die Polizei ihn abholt, steht er kurz darauf erneut vor der Schultür. Muss man diese Jugendlichen sich selbst überlassen?

Generell bin ich ein Freund des Gedankens, dass man alle Möglichkeiten ausnutzen muss, um mit den Eltern ins Gespräch zu kommen. Ich habe darum sehr häufig auch Hausbesuche durchgeführt. Diese Erfahrungen waren sehr hilfreich und haben fast immer eine gute Zusammenarbeit mit den Eltern ermöglicht. Wenn allerdings nichts mehr hilft, muss auch über die Herausnahme aus der Familie oder die Zusammenarbeit mit der Justiz nachgedacht werden.

Im Abstand von zehn Jahren betrachtet: War der Rütli-Brandbrief richtig?

Alle Dinge, die zielorientierte Entscheidungen in Gang bringen, sind sinnvoll. Ich glaube, dass der Rütli-Brief die Entwicklung hin zu Sekundarschulen beschleunigt hat.

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