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Unbequem, aber meist geduldet. In Berlin erhalten Obdachlose vergleichsweise viel Hilfe.

© Thilo Rückeis

Behörden und Hilfsorganisationen zunehmend überfordert: Immer mehr Frauen und Familien in Berlin obdachlos

In der Hauptstadt wird das Problem der Wohnungslosigkeit immer gravierender. Bei einer Konferenz werden Lösungen gesucht.

Das Problem zeigt sich zum Beispiel an einem Rollstuhlfahrer, der in der U-Bahn um Geld bettelt und beklagt, dass er obdachlos ist. In Berlin gibt es keine Notübernachtungsplätze für Rollstuhlfahrer.

Das Problem zeigt sich aber auch an dem gestöhnten Satz des Leiters einer Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge. „Die Leute leben in unserem Haus viel länger als gedacht. Das erzeugt Frust. Wir haben Probleme mit Alkohol.“

Das Problem kann man aber auch in einem Satz bündeln. Elke Breitenbach (Linke), die Sozialsenatorin, sagt dann schlicht: „Die Bezirke stehen mit dem Rücken an der Wand. Deshalb brauchen wir eine gesamtstädtische Steuerung.“

Aber auch der Senat und Hilfsorganisationen stehen beim Thema Obdachlosigkeit und Notunterkünfte an der Wand. 30 718 Menschen lebten zum 31. Dezember 2016 in Not- und Gemeinschaftsunterkünften, Übergangsheimen und Kriseneinrichtungen. Das sind fast doppelt so viele wie 2015 (16 696). Ein entscheidender Grund für die Zunahme ist die Wohnungsnot in Berlin. Flüchtlinge, die im Regelsystem angekommen sind, müssen immer noch in Gemeinschafts- oder anderen Unterkünften leben, weil ihnen eine Alternative fehlt. Eigentlich sind die Bezirke für sie zuständig, doch denen fehlen Wohnangebote.

Und wie viele Menschen dazu noch unter freiem Himmel schlafen, in Parks, unter Brücken, weiß niemand. „Man kann diese Menschen nicht zwingen, ein Hilfsangebot anzunehmen“, sagt die Sozialsenatorin.

Der Staat muss jeden unterbringen

Viele Obdachlose aus EU- und Nicht-EU-Ländern wissen aber, dass die Unterstützung in Berlin, besser gesagt: in Deutschland, sehr gut ist. Wer keine Wohnung hat, muss kurzfristig vom Staat untergebracht werden, im Notfall egal wo und zu welchem Preis. So ist das Gesetz. Und da in Berlin eine weiche Linie gefahren wird, die Hilfsangebote vergleichsweise umfangreich sind und Obdachlose im öffentlichen Raum größtmöglich geduldet werden, ist die Stadt für viele attraktiv. Auch deshalb dürfte die Zahl der Obdachlosen gerade aus EU- und Nicht-EU-Ländern stark gestiegen sein.

Da inzwischen alle Verantwortlichen mit dem Rücken zur Wand stehen, wird am Mittwoch bei einer großen Konferenz mit rund 200 Teilnehmern nach Lösungswegen gesucht. Vertreter der Bezirke sind ebenso dabei wie Mitarbeiter der zuständigen Senatsverwaltungen und von Hilfsorganisationen. Für die Details sind Arbeitsgruppen zuständig, unter anderem zu den Themen Straßenkinder, medizinische Versorgung, soziale Wohnhilfe.

Die Gesamtsituation ist ja schwieriger geworden. „Vor ein paar Jahren war der Obdachlose noch der deutsche Mann zwischen 35 und 55“, sagt Elke Breitenbach. „Jetzt sehen wir viel mehr Frauen, mehr Familien, auch mehr ältere und behinderte Menschen.“

Der Senat verdoppelte nach eigenen Angaben in diesem Jahr seine Ausgaben für Projekte der Wohnungslosenhilfe auf 8,13 Millionen Euro. Damit sollen unter anderem zusätzliche Plätze in Notübernachtungen für Frauen und obdachlose Familien mit Kindern finanziert werden.

Botschafter aus Osteuropa zeigen kein Interesse

Obdachlose aus EU-Staaten stellen ein besonderes Problem dar. Sie leben in Berlin aufgrund der EU-Freizügigkeit, haben aber in der Regel keinen Anspruch auf Leistungen. In Berlin bleiben viele gleichwohl, weil sie hier immer noch besser leben können als in ihren Heimatländern.

Deshalb sind zur Konferenz auch Botschafter aus ost- und südosteuropäischen EU-Mitgliedsländern eingeladen. Sie sollen sich an der Lösungssuche beteiligen. Das Problem ist nur, dass sie daran offenbar wenig Interesse haben. Bis Freitag blieben Rückmeldungen jedenfalls aus. „Mehr Unterstützung wäre uns sehr willkommen“, sagt Elke Breitenbach.

Essensausgabe in einer Noteinrichtung.
Essensausgabe in einer Noteinrichtung.

© imago/epd

Sie hat klare Vorstellungen, wie Lösungen aussehen könnte. Durch frühzeitigere Informationen und Aufklärung zum Beispiel. Zumindest jenen Bürgern in osteuropäischen EU-Ländern, die auf der Suche nach Arbeit herkommen wollen, solle man vor Ort klar machen, dass viele von ihnen nur geringe Chancen hätten, in der Hauptstadt eine berufliche Perspektive zu entwickeln. Menschen, die in ihren Heimatländern schon obdachlos sind, wird man dagegen so nicht vom Zuzug nach Berlin abhalten können.

Kältehilfe wird ausgebaut

Für die Menschen, die bereits da sind, wird die Kältehilfe ausgebaut. Von der Wintersaison 2018/2019 an werden bereits ab 1. Oktober 500 Übernachtungsplätze zur Verfügung stehen. Die Zahl wird dann von 1. November bis 31. März auf 1000 Plätze aufgestockt. Neu ist ab 2018/2019 aber auch, dass nach dem 31. März bis Ende April weiterhin 500 Plätze zur Verfügung stehen. Im Moment öffnen die Unterkünfte der Kältehilfe von Anfang November bis Ende März. Bei Bedarf werden aber mehr Plätze angeboten. „Wir lassen niemanden auf der Straße erfrieren“, sagt Elke Breitenbach.

Auf die Frage, ob die umfassenden Hilfsangebote nicht noch mehr hilfsbedürftige Menschen nach Berlin locken als bisher schon, reagiert Elke Breitenbach sehr konsequent: „Das ist keine ideologische Frage, das ist eine Frage des Rechts. Wir sind zur Hilfe und Abwendung von Notsituationen verpflichtet.“ Das bedeutet – in der Theorie – aber auch, dass unbegrenzt Menschen, egal aus welchen Ländern sie kommen, diese Hilfen in Anspruch nehmen können.

Eine langfristige politische Lösung sieht die Sozialsenatorin nur auf EU-Ebene. „Das Thema muss europaweit angegangen werden.“ Es gebe in der EU keine sozialen Standards für sozial Bedürftige. Und dann gibt es ja noch das große strategische Ziel aller Verantwortlichen. Das formuliert Elke Breitenbach ganz einfach: „Wir wollen verhindern, dass die Menschen überhaupt erst ihre Wohnung verlieren.“

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