zum Hauptinhalt
Hans Brombosch vor dem Haus seiner Eltern in der Schillerstraße 29.

© Mike Wolff

Anti-Schah-Proteste am 2. Juni 1967: Der Junge am Fenster sah Ohnesorg fallen

Hans Brombosch war acht, als Benno Ohnesorg erschossen wurde. Die Polizei glaubte ihm nicht. Hier erzählt er seine Geschichte.

Die Eltern hatten die Jalousien des Küchenfensters heruntergelassen, wegen des Trubels draußen, aber das passte Hans Brombosch nun gar nicht. Also schob er sie leicht nach oben und spähte raus. Für ihn war das jetzt alles aufregend. Ein paar Minuten zuvor hatte er noch im Hof gespielt, in seiner Buddelkiste, jetzt sah er Männer, die andere Männer verprügelten. Und er sah, wie der Mann im roten Hemd in der Nähe der Teppichstange zu Boden fiel, neben ihm ein anderer Mann mit einer Pistole in der Hand.

Hans Brombosch, der Achtjährige, spielte mit seinen Freunden oft Cowboy und Indianer, da war es normal, dass man imaginäre Kinnhaken verteilte und einer mit der Pistole zielte und der andere hinfiel. Der stand dann halt wieder auf, klopfte den Dreck von den Hosen und weiter ging’s. Außerdem dachte Hans Brombosch in diesem Moment, der Mann sei einfach nur gestolpert. Und natürlich werde er gleich wieder aufstehen.

Aber der Mann im roten Hemd stand nicht mehr auf. Er blieb im Hof der Schillerstraße, Ecke Krumme Straße, liegen. In seinem Kopf steckte eine Kugel Kaliber 7,65 Millimeter, abgefeuert aus der Pistole des Polizisten Karl-Heinz Kurras. Der Mann auf dem Boden hieß Benno Ohnesorg, 26 Jahre alt, Student.

"Ich sah den Mann fallen"

Ohnesorgs Tod ließ die Republik erbeben und sorgte für einen der größten Skandale in der Bundesrepublik Deutschland. Und Hans Brombosch spielt bei dieser Geschichte eine wichtige Rolle.

Es war der 2. Juni 1967, der Tag, an dem die Polizei auf Demonstranten einprügelte, die gegen den Schah-Besuch protestierten. Und sehr schnell stand die Frage im Raum: Wurde Ohnesorg ermordet oder schoss Kurras, der zivil im Einsatz war, in Notwehr?

50 Jahre später sitzt Brombosch in einem Café. Aus dem Achtjährigen ist ein Mann mit konzentriertem Blick und scharfen Gesichtszügen geworden. „Den Moment, als Kurras abdrückte, habe ich nicht gesehen, ich habe die Situation auf dem Hof beobachtet. Da wurden Demonstranten verprügelt. Ich habe den Knall gehört.“ Aber, das ist entscheidend, „ich habe Ohnesorg am Rande meines Gesichtsfeldes gesehen“. Der Achtjährige registrierte schon Sekundenbruchteile später die entscheidenden Bilder. „Ich sah, dass der Mann im roten Hemd gefallen ist. Und dass der Mann mit der Pistole allein stand, niemand hatte ihn in dieser Sekunde umringt.“

Es ist die Aussage, dass Kurras unbedrängt geschossen hat. Es ist die Aussage, die Kurras Version als Lüge entlarvt.

Da sollte etwas vertuscht werden

Hans Brombosch hatte dies alles auch schon 1967 der Polizei erzählt. Aber damals glaubte man ihm nicht. Ein Achtjähriger? Kann ja alles erzählen, man kennt ja die Fantasie von Kindern. Das wäre die erste Variante, warum er nicht gehört wurde. Die harmlose.

Die zweite ist weniger harmlos. „Wenn man etwas vertuschen will“, sagt Brombosch und hebt die Hände, „kann man so vorgehen.“ Und „auf jeden Fall wurde etwas vertuscht, das ist Fakt.“ Der Schriftsteller Uwe Soukup schildert in seinem hervorragenden Buch „Der 2. Juni 1967“ die Lügen von beteiligten Polizisten und die Art und Weise, wie im Fall Kurras die Wahrheit vertuscht wurde.

Kurras stand zweimal vor Gericht. Zweimal sprachen ihn die Richter frei. „Heute ist klar, dass beim Urteil etwas nicht korrekt war“, sagt Brombosch. „Man muss annehmen, dass etwas vertuscht oder bewusst nicht zugelassen wurde.“ Kurras sollte geschützt werden, das steht heute fest. Nur war da kurz nach der Tat dieser Junge mit seiner Aussage. Einer Aussage, die fatale Wirkung hätte haben können. Wenn man sie möglichst gut auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft hätte.

Passiert ist das Gegenteil. Und vieles spricht dafür, dass der Junge bewusst als unglaubwürdig dargestellt werden sollte.

Die Befragung durch die Polizei

Nach Ohnesorgs Tod befragte die Polizei alle Bewohner des Hauses in der Schillerstraße 29, in dessen Hof alles geschah. Sie kam auch zu Bromboschs Vater. Der erklärte, sein Sohn habe etwas gesehen. Zwei Tage später saß Hans Brombosch in einer Polizeiwache der Kriminalmeisterin L. gegenüber. Kein Anwalt dabei, kein Kinderpsychologe, nur eine Frau ohne erkennbare Schulung für Gespräche mit Kindern. Heute wäre so eine Vernehmung undenkbar.

Der Achtjährige erzählte, dass der Mann mit der Pistole keine Uniform trug, dass das Opfer einen Schnurrbart und ein rotes Hemd getragen habe. Und dass „gleich, wo der Schuss gefallen ist, der Mann umgefallen“ ist.

Doch L. bezweifelte alles, was der Junge sagte. So erinnert sich Brombosch heute. Am Ende notierte sie: „Hans B. machte seine Angaben in recht kindlicher Form. Er wirkte körperlich sehr zierlich und schien auch geistig nicht altersgemäß entwickelt zu sein. Es wurde der Eindruck gewonnen, dass er zwischenzeitlich aufgrund äußerer Einflüsse (Fernsehen, Zeitung, Unterhaltungen) in keiner Weise in der Lage war, tatsächliches Geschehen wiederzugeben.“

Auf dem Bild des tödlich getroffenen Benno Ohnesorg ist der Schnurrbart zu sehen.
Auf dem Bild des tödlich getroffenen Benno Ohnesorg ist der Schnurrbart zu sehen.

© dpa

Natürlich hätte es sein können, dass der Achtjährige Dinge, die er später gehört oder gelesen hat, mit seiner Erinnerung vermischt. Bei einer Frau, die geblutet hatte, war das so. „Die erwähnte ich in meiner Aussage, aber dass sie geschlagen wurde, habe ich später gelesen.“ Alles andere aber „habe ich gesehen“. Er erwähnte zum Beispiel Ohnesorgs Schnurrbart. Den sah man zwar auch auf einem Foto, aber das wurde Tage nach Bromboschs Aussage veröffentlicht.

Im Café sagt Brombosch: „Wäre eine Kinderpsychologin dabei gewesen, hätte man viel mehr herausholen können.“ Brombosch weiß nicht mehr, ob sein Vater bei der Vernehmung dabei war. Er weiß aber sicher, „dass weder er noch ich je das Protokoll unterschrieben haben“.

Die Merkwürdigkeiten gingen ja weiter. Im Prozess gegen Kurras durfte Bromboschs Vater aussagen, obwohl er nichts gesehen hatte. Doch laut der Mitschrift eines Reporters erklärte er den Richtern: „Mein Sohn hat etwas gesehen.“

Es war der Hinweis auf einen eventuell wichtigen Zeugen. Waren dessen Aussagen überhaupt Teil der Prozessunterlagen? Wenn ja, dann ist der Sohn noch heute fassungslos, dass man seine Aussagen nicht in den Prozess eingeführt hat. „Wenn Gericht und Nebenklage das Protokoll von mir kannten und es nicht berücksichtigten, verstehe ich die Welt nicht mehr. Ich bekomme das nicht zusammen.“ Und wenn die Aussagen nicht vorlagen, weshalb reagierte niemand auf den Einwand des Vaters und fragte nach?

Ein gezielter Schuss war nicht nachzuweisen

Zum Stab der Anwälte, die damals die Familie Ohnesorg als Nebenkläger vertraten, gehörte Hans-Christian Ströbele, der langjährige Bundestagsabgeordnete der Grünen. Auf Anfrage des Tagesspiegels teilte er mit: „Mit der konkreten Prozessvertretung als Nebenklagevertreter in den Prozessen gegen Kurras und Beweisanträgen hatte ich damals nichts zu tun. Prozessvertreter waren (...) nach meiner Erinnerung auch Klaus Eschen und Otto Schily. Schon gar nicht weiß ich, was Zeugen im Einzelnen ausgesagt haben. Vielleicht versuchen Sie es mal beim Kollegen Schily.“ Der Kollege Schily reagierte nicht auf eine Anfrage des Tagesspiegels.

Dass etwas faul war bei Kurras Version, war mit Händen zu greifen. Deshalb waren die Freisprüche ja hochumstritten. In seiner ersten Version, noch in der Tatnacht, erzählte er, dass er zwei Warnschüsse in „Richtung Hausbetondecke“ abgegeben habe. Dort wurden aber keine Einschüsse gefunden. Zehn Tage später sagte er der Staatsanwaltschaft, er sei von Demonstranten eingekesselt gewesen, zwei Männer hätten ihn mit Messern angegriffen. Daraufhin habe er einen Warnschuss abgegeben. Der zweite habe sich „unkontrolliert gelöst“, weil die Demonstranten weiter an ihm gezerrt hätten.

Im ersten Prozess erklärten die Richter zwar, dass es in „weiten Teilen Bedenken“ gegen die Aussagen von Kurras gebe, aber es sei halt auch nicht nachzuweisen, dass er „einen gezielten Schuss auf Benno Ohnesorg abgegeben hat“. In der Revisionsverhandlung erklärten die Richter, dass Kurras vielleicht so in Panik gewesen sei, dass er irrtümlich ein Messer gesehen habe. 56 Zeugen hatten keines gesehen. Auch Brombosch hatte der Polizei erklärt, er habe keines gesehen.

Die Erinnerungen bleiben lebendig

Doch der Achtjährige ging schnell wieder zur Tagesordnung über, die Aufregung der Erwachsenen interessiert ihn nicht. Auch die ganzen Jahre danach „hatte ich keinen Impuls, meine Aussage noch mal zu erzählen“. Selbst die Gründung der Terrororganisation „Bewegung 2. Juni“, die sich in ihrem Namen auf Ohnesorgs Tod bezog, hatte ihn nicht weiter emotional berührt.

Emotionen kommen, wenn er sein Elternhaus von der Straße aus sieht. Jedes Mal, jedes Mal „geht der Blick automatisch rüber“. Dann erst tauchen Erinnerungen auf. „Da hast Du gespielt. An dieser Einfahrt hast Du den Fußball gegen den Betonpfeiler gehämmert.“ Und da drüben, wo jetzt ein Baum steht, war mal die Wiese mit der Buddelkiste.“

In dieser Kiste hatte er gespielt, hier hörte er den Lärm von der Straße, die schreienden Demonstranten und prügelnden Polizisten. Sein Vater holte ihn schnell ins Haus. Minuten später stand Hans Brombosch am Küchenfenster.

Zur Startseite