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Eins plus eins. Wie bei der Autorin Bernadette Conrad und ihrer 14-jährigen Tochter Noëmi bestehen die meisten Kleinstfamilien aus Mutter und Kind.

©  Thilo Rückeis

Alleinerziehend in Berlin: Die Hauptstadt der Minifamilien

Ein Drittel aller Berliner Familien gilt als alleinerziehend - wesentlich mehr als im Bundesschnitt. Eine Neuberlinerin hat ein Buch über das Glück allein mit Kind geschrieben - aber auch über die Benachteiligung.

Im Innenhof zwitschern Vögel. Ein Tulpenstrauß steht auf dem großen runden Küchentisch der Tempelhofer Altbauwohnung. Die 14-Jährige Noëmi, schlichtes dunkelblaues Kleid, schulterlange braune Haare, sitzt auf der Küchenbank und sagt: „Wenn ich Gleichaltrigen erzähle, dass meine Mutter und ich ohne meinen Vater leben, sagen die oft: Das tut mir leid.“ Das findet sie immer etwas merkwürdig: „Schließlich gibt es ja nichts, was einem an der Situation leid- tun müsste.“ Andererseits sei die unvermeidliche Bemerkung auch nicht schlimm: „Mir hat neulich jemand gesagt, dass man das aus Respekt sagt.“

In letzter Zeit hat Noëmi öfter von ihrer Familiensituation erzählt, denn sie ist im Februar mit ihrer Mutter aus Konstanz nach Berlin gezogen. Ist hier irgendetwas anders als vorher in Süddeutschland? Sind in ihrer Klasse in Berlin mehr Kinder, deren Eltern ebenfalls allein erziehen als in Konstanz? Sie muss eine Weile überlegen: „Hier sind es tatsächlich viel mehr“, bemerkt sie. Sie ist sich aber nicht sicher, wessen Familie sie wirklich zur Kategorie „alleinerziehend“ dazuzählen möchte: „Also, wenn die Kinder am Wochenende beim Vater sind und der auch noch zahlt, dann ist das doch nicht richtig alleinerziehend. Oder wenn das Kind eine Woche beim Vater und eine Woche bei der Mutter ist. Das ist eher so halb-halb.“

Eine Leerstelle, wo vorher der Vater war

Noëmis Mutter, Bernadette Conrad, 52, rot-weiß-gepunktete Sweatshirt-Jacke zum Rock, steht neben ihr in der Küche und sagt: „Es gibt da viele Abstufungen. Die Statistik rechnet tatsächlich alle Familien als alleinerziehend, in denen nur ein Erwachsener gemeldet ist.“ Bernadette Conrad, Reisejournalistin, Autorin und Literaturkritikerin, hat viele solcher Informationen parat – sie hat sich intensiv mit dem Thema beschäftigt: Gerade ist ihr Buch „Die kleinste Familie der Welt“ erschienen. Acht Alleinerziehende hat sie darin porträtiert – und ihre und Noëmis eigene Geschichte erzählt: Über Streitereien und harmonische Zweisamkeit. Über die guten Freunde, die zu einer Wahlfamilie wurden. Darüber, wie beide eine Zeit lang an der „Leerstelle litten, die dort klaffte, wo vorher der Vater gewesen war.“ Von extremer Erschöpfung, einsamen Entscheidungen und der „Sorge, der Verantwortung allein nicht gerecht zu werden“, schreibt sie – aber auch: „Ich wollte dieses Buch schreiben, weil ich trotz dieser und vieler anderer Fallstricke die vergangenen zwölf Jahre, die ich allein mit meiner Tochter gelebt habe, als glückliche Zeit erlebt habe.“

Die Trennung führte aus einer unglücklichen Situation heraus

Noëmis erste zwei Lebensjahre lebten sie mit dem Vater zusammen – dann war eine Trennung „der einzige Weg, der aus einer unglücklichen Situation herausführte.“ In eine bessere. Doch oft sind ihr Menschen begegnet, die das anders sahen: „Es gibt einen gesellschaftlichen Standardblick auf Alleinerziehende: Das da ein Defizit ist. Das hat mich immer geärgert – und überrascht“, sagt Bernadette Conrad. Sie meint, dass es in den „Kleinstfamilien“ besonders viel „Kreativität, Vitalität, Flexibilität und Kompetenz“ gebe – bei Eltern und Kindern. „Dass seit Mitte der Neunziger die Zahl der Alleinerziehenden steigt, zeigt doch, das wir keine Randgruppe sind, sondern dass es einen Trend zu dieser Lebensform gibt. Es ist kein Leidensthema, sondern eine Familienform unter mehreren.“

Und zwar eine, die in der Hauptstadt besonders oft vorkommt: 32 Prozent der Berliner Familien wurden 2015 als alleinerziehend registriert, teilte gerade das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg mit – also ein Drittel der 340 200 Familien mit Kindern unter 18 Jahren, die hier leben. Im Bundesdurchschnitt sind es viel weniger – nur ein Fünftel.

Die Minifamilie: Eine Mutter mit Kind

„Besonders oft bestehen Alleinerziehendenfamilien aus einer Mutter und einem Kind“, sagt Bernadette Conrad. „Minifamilie“, „Kleinstfamilie“ – oder auch „Eins-plus-eins-Familie“ nennt sie das. Auch sie selbst und Noëmi zählen dazu. Der Leser des Buches lernt die beiden recht gut kennen – und bekommt den Eindruck von einer glücklichen Beziehung. Ebenso wie bei den anderen Minifamilien, die porträtiert werden – darunter ein verwitweter Vater: „Es war nicht schwer, positive Beispiele zu finden.“

Warum also wird diese Familienform immer noch als negativ angesehen? „Wir gelten nicht richtig als Familie, und das ist unfair“, sagt Noëmi. „Das liegt an den Bedingungen“, sagt ihre Mutter. Damit meint sie zum Beispiel die steuerliche Benachteiligung Alleinerziehender gegenüber Verheirateten durch das Ehegattensplitting. Auch für Bernadette Conrad sind die hohen Steuern schon oft ein Problem gewesen. „Ich habe mir nicht ausgerechnet, wie viel weniger ich zahlen müsste, wenn ich einen Ehepartner hätte. Schließlich kommt das ja nicht infrage.“

Alleinerziehende haben das höchste Armutsrisiko

„Alleinerziehende und ihre Kinder haben mit über 40 Prozent das höchste Armutsrisiko aller Familienformen, das ist Ausdruck ihrer immer noch anhaltenden gesellschaftlichen Benachteiligung“, sagt Miriam Hoheisel, Bundesgeschäftsführerin des Verband alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV). 75 Prozent der Alleinerziehenden erhalten laut VAMV keinen oder weniger als den ihren Kindern zustehenden Kindesunterhalt. Im Familienausschuss des Bundestages thematisierte der Verband gerade das Problem des Unterhaltsvorschusses: Wenn der abwesende Elternteil nicht zahlt, bekommt der erziehende Elternteil Geld vom Jugendamt, das es von dem säumigen Zahler wieder eintreibt. Allerdings nur 72 Monate lang – und nur bis zum zwölften Lebensjahr. „Zwölf ist eine völlig willkürliche Grenze“, sagt Bernadette Conrad, für die das Thema „Unterhalt“ nicht immer unproblematisch war. Der VAMV fordert, dass das Jugendamt bis zur Volljährigkeit zahlen soll. Berlin hat immerhin gerade eine Bundesratsinitiative eingebracht, die beinhaltet, dass der Unterhaltsvorschuss bis 14 gezahlt wird.

Hinzu kommt: 43 Prozent der Alleinerziehenden leben von Hartz-IV – oder stocken auf. Dabei arbeiten 70 Prozent von ihnen. Der VAMV kritisierte geplante Verschlechterungen für die Kinder von Alleinerziehenden bei der aktuellen Hartz-IV-Reform: Das Sozialgeld fürs Kind bei Alleinerziehenden soll gestrichen werden für die Tage, an denen es Umgang mit dem Vater hat. Dabei sei es teurer, wenn ein Kind sich in zwei Haushalten aufhält, kritisiert der VAMV. Der Verband fordert auch eine Grundsicherung für alle Kinder.

Das Konto permanent im Minus

„Seit ich alleinerziehend bin, ist mein Konto permanent im Minus“, zitiert Conrad im Buch eine Berliner Mutter eines Teenagers, die in Prenzlauer Berg lebt. „Wenn ich aus der Wohnung rausmüsste, hätte ich keine Chance, hier in der Gegend zu bleiben“, heißt es. In den Neunzigern ist sie dorthin gezogen. „Damals war die Hälfte der Leute auf dem Prenzlauer Berg alleinerziehend. (...) Als Alleinerziehende war man nicht allein.“ Das hat sich geändert: „Es ist ein echtes Glück, dass wir noch hier sind.“

Nicht nur in Prenzlauer Berg, sondern in ganz Berlin macht der angespannte Wohnungsmarkt vielen Alleinerziehenden noch mehr zu schaffen als anderen Berliner Familien. Lange hatte Bernadette Conrad schon den Plan, nach Berlin zu ziehen, weil sie „ins kulturelle Zentrum“ wollte. „Jetzt war der Zeitpunkt, wo es auch für Noëmi gepasst hat.“ Zu den positiven Aspekten des Alleinerziehens gehört für sie auch: „Die alleinige Freiheit, den gemeinsamen Raum so zu gestalten, wie man will. Zum Beispiel einfach so nach Berlin zu gehen.“

Längere Zeit scheitert der Plan jedoch daran, dass sie keine bezahlbare Wohnung fand. „Es war ein unglaublicher Zufall, dass wir diese Wohnung über Bekannte von Bekannten gefunden haben.“ Ein ganzes Stück außerhalb des S-Bahn-Rings in Tempelhof, aber immerhin noch mit Hauptstadtgefühl.

RATGEBER: Das Taschenbuch „Alleinerziehend - Tipps und Informationen“, das der Verband alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV) gerade herausgegeben hat, kann man bestellen: per Mail an

publikationen@bundesregierung.de oder unter Tel. 030-182722721 . Infos zu Hilfe-Angeboten und Alleinerziehenden-Treffen unter www.vamv-berlin.de

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