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Vielen Gymnasiasten stehen demnächst Abiturprüfungen bevor.

© Thomas Warnack/dpa

Abitur in Berlin: Der steigende Notenschnitt ist nicht das Problem

Fünf Gründe, warum es immer mehr Einser-Abis gibt - und ein Hinweis auf Abraham Lincoln. Der sagte, man stärke die Schwachen nicht, indem man die Starken schwäche. Das gilt auch für Schule. Ein Gastbeitrag.

Im vergangenen Jahr haben 270 Berliner Schülerinnen und Schüler das Abitur mit der Durchschnittsnote von 1.0 abgelegt, was auch heute noch eine bemerkenswerte Leistung darstellt. Alle Einsnuller-Schülerinnen und -schüler haben über Jahre ihr Leben auf die Schule ausgerichtet. Doch das Abitur ist bundesweit durch einen Anstieg der Durchschnittsnoten in der Spitze und in der Breite ins Gerede gekommen. Auch der Berliner Schnitt liegt mit 2,4 deutlich über den Ergebnissen des vorigen Jahrhunderts. Beides legt den Verdacht nahe, dies sei auf Kosten der Leistung erfolgt.

Drei administrative Eingriffe stützen diese Überlegungen: In den Integrierten Sekundarschulen (ISS) wurden die Kriterien für einen Übergang in die Gymnasiale Oberstufe herabgesetzt, mit dem Ergebnis, dass sich jetzt deutlich mehr schwächere Schüler in den 11. Klassen befinden als zu Gesamtschulzeiten. Die aufnehmenden Oberstufen mussten ihre Anforderungen zwangsläufig anpassen, wenn sie diese Schüler nicht wieder verlieren wollten. Die zweite Änderung betrifft die Senkung der Anforderungen in der Abiturstufe. 45 Prozent der geforderten Leistung reichen seit einigen Jahren für die Note ausreichend und 90 Prozent für die Note sehr gut. Die Regelung gilt bundesweit.

Die linke Bildungspolitik täte gut daran, das Abitur zu einem Menschenrecht zu erklären, das auf einfachen Antrag mit Bestnote zu bescheinigen ist. Dann könnte man die Schulen schließen und viel Geld sparen.

schreibt NutzerIn plumpe

Auch das Zentralabitur zieht den Schnitt nach oben

Ein dritter Grund für die besseren Noten liegt im Zentralabitur. Man erinnere sich, es wurde eingeführt, um den Objektivitätsgrad zu erhöhen, gleiche Aufgaben, gleiche Chancen, mehr Gerechtigkeit, so die öffentliche Lesart. Aber das Problem liegt im Detail: Die zentrale Aufgabenstellung sichert das Niveau nach unten ab, sie bewegt sich aber im Anspruch notwendigerweise auf einem mittleren Level, weil sie für alle, die Guten wie die Schwachen, zu bewältigen sein muss. Spitzenergebnisse, wie sie früher mit auf den Unterricht und die Lerngruppe abgestellten Aufgabenstellungen erzielbar waren, sind damit ausgeschlossen.

Eine inhaltliche Neuerung, die den Berliner Abiturdurchschnitt gehoben hat, kann man klar benennen, die 5. Prüfungskomponente (5. Pk). Sie besteht entweder aus einem in einer Gruppe erarbeiteten Referat oder einer schriftlichen Hausarbeit, „Besondere Lernleistung“ genannt (BLL). Das Thema können die Schüler und Schülerinnen selbst wählen, es muss einen Bezug zu einem zweiten Fach aufweisen. Für das Referat haben sie mehrere Monate Zeit, es muss medial aufbereitet sein und wird frei vorgetragen. Die schriftliche Hausarbeit wird vor einem Fachgremium verteidigt, wie eine Dissertation.

Beurteilungskriterien sind fachliche Richtigkeit, inhaltliche Originalität, Methodenkompetenz, sprachliche Ausdrucksfähigkeit, Eigenständigkeit des Vorgehens und Zeitmanagement. Viele Präsentationen sind von einer erstaunlichen Qualität, sie sind das Ergebnis monatelanger Arbeit, im Abitur entsprechen sie bei guten Zensuren wissenschaftlichen Ansprüchen, kombiniert mit hoher medialer Kompetenz. Die 5. Pk stellt eine zeitgemäße Bereicherung der Abiturprüfung dar.

Der Unterricht ist variabler und schülerorientierter als vor 30 Jahren

Eine weitere Erklärung für die verbesserten Noten liegt im Unterricht selbst, er ist deutlich variabler und schülerorientierter geworden. Vor 30 Jahren war es keine Selbstverständlichkeit, dass eine Englischlehrkraft die Sprache fließend sprach und auch die Schüler dazu anhielt. Und das Talent, einen Aufsatz zu schreiben, hatte einem der liebe Gott in die Wiege gelegt wie eine schöne Stimme – man hatte es oder nicht. Heute sind individualisiertes Lernen und Praxisbezug Standard, wenigstens vom Anspruch her, sie werden einzig durch den hohen Anteil an fachfremdem Unterricht durch Quereinsteiger infrage gestellt.

Das Problem der Berliner Schule liegt nicht in der Anzahl der guten Abiturnoten, weil hinter ihnen immer noch gute und sehr gute Leistungen stehen. Es liegt darin, dass die politische Idee, mehr Chancengleichheit durch Absenkung der Anforderungen herzustellen, im wahren Leben nicht greift. Man stärkt die Schwachen nicht, indem man die Starken schwächt (Abraham Lincoln).

Der Autor war Gymnasialdirektor in Berlin und Vorsitzender der GEW-Schulleitervereinigung

Wolfgang Harnischfeger

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