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Eines der wenigen Bilder von der nicht genehmigten Demonstration 1988 in Ost-Berlin. Links wird ein westdeutsches Kamerateam abgedrängt.

© Bernhard Freutel

30 Jahre oppositionelle Luxemburg-Demo: Kampf um die "Freiheit der Andersdenkenden"

1988 formierte sich in Ost-Berlin über ein Luxemburg-Zitat erster Straßenprotest. Es folgte eine der größten Verhaftungs- und Ausreisewellen der DDR.

Von Andreas Austilat

Es regnete, die dicke Wattejacke würde sich vollsaugen. Bernhard Freutel zog sie trotzdem an, als er sich am Sonntagmorgen des 17. Januar 1988 auf den Weg zum Frankfurter Tor machte. Aus strategischen Gründen: Unter der Jacke ließen sich sein Fotoapparat und drei Transparente gut verstecken.

„Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“, war eine der Losungen darauf – ein Spruch von Rosa Luxemburg, klug gewählt. Vordergründig gedachte das offizielle Ost-Berlin an diesem Tag Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, den im Januar 1919 ermordeten, mythisch verehrten Mitbegründern der Kommunistischen Partei. Tatsächlich handelte es sich um ein alljährliches Ritual, bei dem die SED zeigen wollte, wie freudig alle am real existierenden Sozialismus mitwirkten. Die Freiheit der Andersdenkenden war da nicht vorgesehen.

In bester Laune malten die Freunde ihre Transparente

Freutel, damals 30, war aktiv in der oppositionellen Umwelt- und Friedensbewegung. Fotos zeigen ihn mit Freunden in allerbester Laune beim Malen der Transparente. Sie ahnen nicht, dass es lange dauern wird, bevor sie sich nach diesem 17. Januar alle wiedersehen.

Gegen neun Uhr steht Freutel dicht vor dem vereinbarten Treffpunkt: Die Treppe vor dem Sporthaus am Frankfurter Tor. Heute ist dort das Humana-Second-Hand-Kaufhaus. Sofort fielen ihm die vielen unauffälligen Leute mit den charakteristischen Handgelenk-Taschen auf. 350 Mann hatte die Stasi an diesem Tag im Einsatz; wer bereits die Treppe erreicht hatte, wurde schnell abgeschirmt.

Freutel schoss seine heute raren Fotos. Eines zeigt, wie ein Fernsehteam aus dem Westen abgedrängt wird, auf einem anderen wird ein Protest-Transparent hochgehalten – und gleich danach runtergerissen. Er trat den Rückzug an.

Von der anderen Straßenseite beobachtete Monika Walendy das Geschehen. Die 33-jährige Ärztin vom Wilhelm-Griesinger-Krankenhaus in Kaulsdorf wollte ursprünglich mitmachen. Doch ihr Mann stand dort drüben, das Risiko, dass beide verhaftet würden und ihre beiden kleinen Kinder dann allein zu Hause wären, erschien ihnen zu groß.

"Legale Ausreise? Keine Chance"

Walendy und ihr Mann hatten zu jener Zeit genug von der DDR. Sie wollten die Musik hören und die Filme sehen, die sie mögen, sie wollten reisen, die Welt sehen, sie wollten raus aus dem Staat, der all das nicht zuließ. 1985 stellten sie einen Ausreiseantrag. Ihr Mann, der in der noch jungen Computertechnik arbeitete, durfte daraufhin seine bisherige Arbeit nicht mehr ausüben. Monika Walendy wurde weiter als Ärztin gebraucht, „auf legale Ausreise hatten wir keine Chance“.

Die beiden gehörten zu den Mitbegründern der Arbeitsgemeinschaft Staatsbürgerrecht um den DDR-Regisseur Günter Jeschonnek. Reisefreiheit lautete ihre zentrale Forderung. Andere Oppositionelle, die sich seit Jahren in der Umweltbibliothek engagierten, in der Freutel aktiv war, oder in der Initiative Frieden und Menschenrechte um das Ehepaar Wolfgang und Lotte Templin, reagierten reserviert auf die Aktivitäten der Staatsbürgerrechtler. Denn sie wollten bleiben und die DDR verändern. Es gab Stimmen, die Walendy und ihren Mitstreitern materialistische Motive unterstellten. Und dennoch trat das ein, was die Staatsmacht fürchtete: Die Gruppen verständigten sich.

Aktivisten bereiten Plakate für ihre Luxemburg-Demo 1988 vor.
Aktivisten bereiten Plakate für ihre Luxemburg-Demo 1988 vor.

© Bernhard Freutel

Am 9. Januar 1988 war der Gemeindesaal der Zionskirche mit 150 Besuchern voll. Die Staatsbürgerrechtler erklärten, mit eigenen Transparenten bei der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration aufzutreten. Andere schlossen sich an. „Wir konnten nicht länger denken, es gibt bessere und schlechtere Oppositionelle“, erinnert sich Wolfgang Templin heute und sagt: „Ich wusste, eine solche Aktion wird die Staatsmacht bis ins Mark treffen.“

Die Staatssicherheit war alarmiert: Die „Demonstration der Berliner Werktätigen“ dürfe auf keinen Fall „zu einer die öffentliche Ordnung und das sozialistische Zusammenleben bedrohenden Zusammenrottung missbraucht werden“, heißt es im Maßnahmenplan. Allein 150 Verdächtige wurden zu Hause aufgesucht, sie sollten schriftlich zusichern, der Kundgebung fernzubleiben.

Wolfgang Templin wurde offen observiert. Zweimal schon war er in so einem Fall aus seiner Wohnung in Pankow über den Hof entwichen. Am 16. Januar bemerkte er, dass die Bewacher jetzt auch diesen Weg versperrt hatten. „Ich war sicher, wenn ich am nächsten Tag das Haus verlasse, verhaften die mich.“ Tatsächlich wurden viele auf dem Weg zum Frankfurter Tor festgenommen, unter ihnen der Liedermacher Stefan Krawczyk. Andere, die den Treffpunkt erreichten, brachte man von dort direkt in die Haftanstalt Rummelsburg. Unter den 170 Verhafteten war auch Monika Walendys Mann.

Sie selbst stand noch auf der anderen Straßenseite, als zwei Männer sie aufforderten, in einen Lada einzusteigen. Auch ihre Fahrt endete in Rummelsburg. Man brachte sie in eine Sammelzelle, die Stimmung war hier gut, keiner rechnete damit, dass man sie lange festhalten würde. Dass es anders ausgehen könnte, schwante ihnen erst, als sie ins Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen überstellt wurden.

Auch Zeitzeuge Bernhard Freutel demonstrierte 1988.
Auch Zeitzeuge Bernhard Freutel demonstrierte 1988.

© privat

Die Staatsmacht plante, den 17. Januar zum Anlass zu nehmen, die Opposition auszuschalten. Anklagen wegen Landesverrats wurden vorbereitet, darauf standen bis zu zwölf Jahre, wie Stasi-Minister Erich Mielke im kleinen Kreis berichtete. Die Verhaftungswelle rollte. Am 25. Januar traf es Wolfgang Templin und seine Frau Lotte, Freya Klier, damals mit Stefan Krawczyk verheiratet, und viele andere prominente Oppositionelle.

Plötzlich wurde die DDR-Opposition auch im Westen wahrgenommen

Warum die DDR dann nach ein paar Tagen doch von ihrer harten Linie abwich, ist nicht restlos geklärt. Sicher ist, dass die Solidarität im In- und Ausland die Regierung zunehmend irritierte. Im Westen hatte man bis dahin die Opposition in der DDR wenig wahrgenommen, das änderte sich schlagartig.

Bernhard Freutel besitzt heute noch seinen Taschenkalender aus dem Jahr 1988. Für die Wochen nach dem 17. Januar ist praktisch an jedem Tag irgendeine Solidaritätsveranstaltung, eine Mahnwache oder ein Gedenkgottesdienst eingetragen. „Es war unglaublich zu sehen, was plötzlich los war und wie viele Leute sich an die Öffentlichkeit trauten."

Monika Walendy sah ihren Mann am 2. Februar wieder, in der Untersuchungshaftanstalt in der Magdalenenstraße. Beiden drohte eine Haftstrafe, ihr sechs Monate, ihrem Mann zwölf. Man ließ sie im Ungewissen, was aus ihren Kindern werden würde. Doch zu ihrer Überraschung trafen sie nun nicht nur ihren Anwalt, sondern auch den evangelischen Landesbischof Gottfried Forck, der sich energisch für die Inhaftierten einsetzte. Den Walendys wurde erklärt, sie kämen in Freiheit, wenn sie sofort in den Westen ausreisten. Das gleiche Angebot erhielten Freya Klier, Stefan Krawzcyk, Wolfgang und Lotte Templin. Doch anders als die Walendys wollten sie in der DDR bleiben.

Es begann ein tagelanges Tauziehen. Die Verteidiger der Inhaftierten spielten dabei eine seltsame Rolle, allen voran der später als Stasi-Zuträger enttarnte Wolfgang Schnur. Er sagte seinen Mandanten nicht, wie sehr ihr Fall auch im Ausland für Aufsehen sorgte, suggerierte ihnen, sie seien von aller Welt verlassen und drängte sie, einer Ausreise zuzustimmen.

Zeitzeugin Monika Walendy
Zeitzeugin Monika Walendy

© privat

Auch andere Verteidiger wie Gregor Gysi und Lothar de Maizière, der Wolfgang Templin vertrat, verschwiegen offenbar ihren Mandanten, was draußen los war, wie Christian Booß, Experte für die DDR-Justiz, erklärt. „Alle Anwälte“, so Booß, „zeigten zu diesem Zeitpunkt nur einen Weg, raus aus der DDR.“ Wie den Templins erging es vielen anderen Oppositionellen. Der größten Verhaftungswelle seit dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 folgte die größte Ausweisungswelle.

Auch dagegen gab es Widerstand. Die Templins erstritten wie einige andere das Rückkehrrecht nach Ablauf von zwei Jahren. Die Mauer fiel dann früher.

Monika Walendy lebte mit ihrem Mann und den Kindern, die ihnen folgten, fortan in West-Berlin. Bernhard Freutel übergab einige Fotos einem West-Journalisten, zwei Transparente verbrannte er im Kachelofen. Das dritte versteckte er so gut, dass er es nie wiederfand. Einen Ausreiseantrag zog er zurück. „Ich hatte den Eindruck, hier verändert sich gerade etwas.“

Für einen kurzen Moment mochte die Staatssicherheit glauben, über die Bürgerrechtler gesiegt zu haben, die sie zwar nicht wegsperren, aber aus dem Land werfen konnte. Tatsächlich, so Christian Booß, entstanden nach dem 17. Januar schnell neue Netzwerke. Die Ausreisebewegung erhielt immer größeren Zulauf.

Erich Mielke selbst zog in einer Dienstbesprechung am 25. Februar 1988 sein Fazit: „Das Zusammenspiel der feindlich-negativen Kräfte hat eine völlig neue Dimension bekommen.“ Der Anfang vom Ende der DDR hatte begonnen.

Heutiges Gedenken an Liebknecht und Luxemburg

Zu den Vorfällen am 17. Januar 1988 gibt es am heutigen Sonntag eine Diskussions- und Erinnerungsveranstaltung im Stasimuseum in Lichtenberg, veranstaltet vom Bürgerkomitee und dem Trägerverein des Stasi-Museums. Sie beginnt um 11.30 Uhr in der Ruschestraße 103, moderiert von Experte Christian Booß. Auf dem Podium sitzen auch viele Zeitzeugen, die in unserem Text zu Wort kommen: Günter Jeschonnek, Monika Walendy, Wolfgang Templin und der Liedermacher Stephan Krawczyk.
Die traditionelle linke Großdemonstration zur Erinnerung an die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg findet an diesem Sonntag, 10 Uhr, auf der Gedenkstätte der Sozialisten in Friedrichsfelde statt. Dabei werden unter anderem führende Politiker der Linken erwartet. In Friedrichsfelde waren die beiden Ermordeten 1919 beigesetzt worden. Eine weitere Gedenkveranstaltung findet um 15 Uhr am Rosa-Luxemburg-Steg am Landwehrkanal, Höhe Lichtensteinallee, statt. Am Montag, 18 Uhr, ist eine Gedenkdemonstration geplant, die vom Olof-Palme-Platz zu den beiden Denkmälern für die Ermordeten im Tiergarten führt.

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