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Das Cassiopeia ist einer vielen Clubs auf dem Gelände.

© Thilo Rückeis

150 Jahre RAW in Berlin-Friedrichshain: Wie aus der Bahnwerkstatt ein Szene-Areal wurde

Früher Reichsbahnausbesserungswerk, heute Partymeile: Drei Künstlerinnen erinnern sich an die Anfänge der Alternativkultur.

Die Gedenkstätte für die Kommunisten Franz Stenzer und Ernst Thälmann, errichtet zum 100. Jahrestag des Reichsbahnausbesserungswerkes – RAW – wirkt 50 Jahre später wie ein beiläufig abgestelltes Relikt einer vergangenen Kultur. Am Fahnenmast grüßt keine SED-Fahne mehr, sondern ein zotteliges Metallskelett. An einem Pollerpfosten haben sie einen verpixelten Che Guevara gemalt, passt ja irgendwie dazu. Dennoch treffen sich hier alle paar Jahre echte Alt-Kommunisten, um ihrer Märtyrer zu gedenken.

Die Drei vom RAW. Kristine Schütt, Frauke Hehl und Käthe Bauer (v.l.).
Die Drei vom RAW. Kristine Schütt, Frauke Hehl und Käthe Bauer (v.l.).

© Thilo Rückeis

Das RAW in Friedrichshain, inzwischen bundesweit berüchtigter Partyhotspot, feiert seinen 150. Geburtstag mit Ausstellungen und Führungen – am Samstagabend steigt die große „Gala-Nacht“ im Crack Bellmer, einem der diversen Clubs auf dem Gelände. Ungewöhnlich für die Alternativkulturszene des RAW: Die Gala ist ein richtiger Ball mit Abendgarderobe. Dabei sein werden auf jeden Fall drei Frauen, für die das RAW schon lange im Zentrum ihres Lebens steht: Kristine Schütt, Frauke Hehl und Käthe Bauer.

"Die ersten Jahre waren wie Camping"

Alle drei verstehen sich als Künstler, aber auch als Teil einer solidarischen Gemeinschaft mit antikommerziellem Impetus. Nicht das Geld soll das RAW dominieren, sondern die freie Entfaltung eigener Träume und Talente. Deshalb kamen Kristine Schütt und Frauke Hehl vor knapp 20 Jahre auf das Gelände, zogen in das „Beamtenwohnhaus“ und das Verwaltungsgebäude, nahmen das „Stoff- und Gerätelager“ in Besitz. Sie bekamen reguläre Mietverträge vom Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, die mit der Bahn als Eigentümer einen dreijährigen Nutzungsvertrag abgeschlossen hatte.

Schnell war den Frauen und vielen Mitstreitern klar, dass sie bleiben wollten – trotz aller Widrigkeiten. „Die ersten drei Jahre waren wie Camping“, erinnert sich Kristine Schütt, damals Anfang 40. Das Wasser mussten sie von einer zentralen Zapfstelle holen, den Strom von einer Imbissbude. Die Bahn hatte alle Leitungen auf dem Gelände bei der Stilllegung des Werkes 1994 gekappt. Andererseits lebten die Pioniere, die 1999 auf das Gelände kamen, in einem Garten Eden, umfriedet von hohen Backsteinmauern, inmitten alter Bäume. „Das war gigantisch am Anfang“, sagt Frauke Hehl. Die totale Ruhe, mitten in Friedrichshain, autofrei und autonom.

Für das acht Hektar große Gelände gab es nur einen zentralen Zugang. Von den heutigen Problemen – Partytouristen, Drogendealer, Kleinkriminalität, Lieferverkehr – war man noch völlig unberührt. „Das ist heute nicht mehr die Art von Freiraum, wie wir ihn mal visioniert haben“, sagt Kristine Schütt. Trotzdem hängt ihr Herz an dem Gelände, und ihre Existenz sowieso.

Ähnlich geht es der Malerin Käthe Bauer, die aus Baden-Württemberg via Leipzig 2011 nach Berlin kam und im RAW den „idealen Ort“ fand, um zu arbeiten und sich sozial zu engagieren. Mit der Immobilientochter der Bahn, der Vivico, wurden Pläne für eine Nutzung des Geländes geschmiedet, das Stoff- und Gerätelager, ein langgestrecktes Gebäude mit Probenräumen für Musik, Tanz und Zirkus, konnte mit Fördermitteln saniert werden. Ein Skater-Verein baute die ehemalige Schmiedehalle zu ihrem zentralen Trainingslager aus.

Investor folgte auf Investor - und nichts ging voran

Doch die Vivico verlor die Geduld und verkaufte 2007 an eine deutsch-isländische Investorengesellschaft, damit begann jahrelanger Zwist, und alle Bauplanungen waren Makulatur. Die Investoren zerrten sich gegenseitig vor Gericht, 2015 verkauften sie schließlich an die Kurth-Immobilien aus Göttingen. Und wieder begann alles von vorn. Juniorchef Lauritz Kurth bekennt sich zur Alternativkultur des RAW, will daneben aber auch Einzelhandel und Gewerbefläche für Unternehmen schaffen. Dass die ehemalige Radsatzdreherei, eine baufällige Ruine aus den Gründertagen des RAW, dem Abriss entgeht und derzeit saniert wird, werten die Künstler als vertrauensbildende Maßnahme.

Das Gelände im östlichen Bereich des RAW, mit den Hallen, die zuletzt vom Streetfoodmarkt Neue Heimat genutzt wurden, hat sich die International Campus AG gesichert. Dort sind Co-Working-Angebote geplant. "Wir wollen eine vielfältige Nutzung des Geländes für Nachbarn, Familien und Leute aus dem Kiez", sagt Sprecher Thomas Rücker. Man sei im Gespräch mit dem Bezirk.

Im Herbst soll ein Dialogprozess mit öffentlichen Planungsworkshops beginnen, ganz nach dem Geschmack des grünen Baustadtrats Florian Schmidt. Die 130 Jahre, als das RAW nichts anderes war als ein großes Bahnwerk, blenden die Künstler bei ihrem Jubiläum weitgehend aus. Anfangs habe ihnen ein ehemaliger Reichsbahner noch geholfen sich zurechtzufinden, später sei der Kontakt abgebrochen, erzählt Kristina Schütt. Am 1. Oktober 1867 wurde das Gelände als "Königlich Preußische Eisenbahnwerkstatt Berlin II" in Betrieb genommen – damals eine einsame Ansiedlung vor der Stadtmauer. Die Oberbaumbrücke und die umliegenden Altbauten entstanden erst Jahrzehnte später.

Vor dem Ersten Weltkrieg arbeiteten 1200 Menschen auf dem Gelände. Die preußische Ostbahn ließ ein Wohnhaus errichten und ein „Ambulatorium“ für die medizinische Versorgung ihrer Arbeiter; in der DDR wurde dort Theater gespielt, heute ist das Gebäude baufällig und darf nicht genutzt werden. 1967 erhielt das RAW den Beinamen Franz Stenzer, ein kommunistischer Reichstagsbgeordneter und Eisenbahner, der 1933 im KZ Dachau ermordet wurde.

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