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Der Armutsforscher Christoph Butterwegge tritt bei der Bundespräsidenten-Wahl für die Linke an.

© picture alliance / Jörg Carstens

Armutsforscher Butterwegge: „Nur ein linkes Bündnis kann für politische Aufbruchstimmung sorgen"

Der Armutsforscher Christoph Butterwegge stellt sich für das Amt des Bundespräsidenten zur Wahl, als Kandidat der Linken. Eine Chance hat er nicht – aber eine Mission.

Er war zehn, als auf dem Gymnasium in Dortmund der neue Klassenlehrer, der Latein unterrichtete, alle Schülernamen durchging, nur Jungen, weil es keine Mischklassen gab, um jeden zu fragen: „Was ist der Beruf deines Vaters?“

Der junge Christoph Butterwegge kannte seinen Vater nicht. Die Mutter hatte nie mit ihm darüber geredet, sie war alleinerziehend, und natürlich arbeitete sie selbst, aber das schien hier nicht zu zählen. „Was ist der Beruf des Vaters?“ Butterwegge hatte keine Antwort, und er fühlte sich unwohl in seiner Haut, weil er den Eindruck haben musste, er sei weniger wert als andere. Als es die ersten Noten zu vergeben gab, ahnte er, warum dem Lehrer die Frage wichtig gewesen war. Der Sohn eines bekannten Unternehmers bekam immer die besten Noten. Bei ihm dagegen stand in Latein eine 6.

Der Politikwissenschaftler und Armutsforscher, den die Linke gerade als ihren Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten ausgerufen hat, hat diese Geschichte noch nie öffentlich erzählt. Sie fällt ihm ein an einem kalten Tag im Dezember in einem mit Bücherregalen vollgestopften Seminarraum der Kölner Universität auf die Frage nach dem Grund für seine Leidenschaft für soziale Themen. Diese Szene, sagt er nachdenklich, habe sich schon sehr tief in ihm eingebrannt.

Butterwegge, 65 Jahre alt, ist einer der schrillsten Warner und unermüdlichen Kritiker der deutschen Politik. In vielen Büchern, Aufsätzen und anderen Texten kritisiert er, dass das Soziale immer rasanter seinen Eigenwert verliere und dem Ökonomischen unter- oder nachgeordnet werde. Deutschlands Fixierung auf „reine Standortsicherung“ verkehre das Verhältnis von Ökonomie, Staat und Politik. Politik sei zur abhängigen Variable der Volkswirtschaft degradiert worden. Aus dem in der Verfassung postulierten Sozialstaat werde ein „Minimalstaat“.

Seine Lösung lautet: Umverteilung

Butterwegge fürchtet sich nicht davor, alles und jeden anzugreifen: Leistungsgerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, Generationengerechtigkeit, alles also Begriffe, die die etablierten Parteien verwenden, hält er für – „politische Kampfbegriffe des Neoliberalismus“. Wo immer er kann, geißelt er diese Politik und findet, dass der „Finanzmarktkapitalismus“ systembedingt die Kluft zwischen Arm und Reich vertiefe.

Was kann man da noch tun, wenn irgendwie alles falsch erscheint?

Die einzige Lösung, die Butterwegge sieht, lautet: „Wer soziale Ungleichheit verringern und die Armut wirksam bekämpfen will, muss Umverteilung betreiben und den privaten Reichtum antasten.“ Wenn man Butterwegge konsequent zu Ende denkt, dann hat es keinen Sinn, dass der Einzelne eigenverantwortlich handelt oder von der Politik dazu aufgefordert wird. Denn die Folge wäre unsolidarisches Verhalten, Egoismus, Klassendenken. Diese Gefahr wiederum ist für Butterwegge nur durch einen massiv eingreifenden Staat minimierbar.

Er ist wegen der Agenda-Politik aus der SPD ausgetreten

Butterwegge ist von Herzen und von seiner Sozialisierung noch immer ein Sozi. Obwohl er wegen der Agenda-Politik aus der SPD austrat. Schon mit 20 war er bei den Jusos aktiv, auch hier war es übrigens ein Lehrer, der ihn „politisierte“. Der Deutschlehrer war selbst Sozialdemokrat, und er trat aus der Partei aus Protest gegen die Große Koalition von 1966 aus.

Butterwegge gehörte zum ganz linken Flügel der „staatsmonopolistischen Kapitalisten", Stamokap-Flügel genannt. 1975 wurde er wegen seiner Angriffe auf die Politik von Helmut Schmidt aus der Partei ausgeschlossen. Noch heute aber erinnert sich Butterwegge daran, dass allein der Unterbezirk Dortmund seinerzeit 35 000 SPD-Mitglieder hatte. Man muss kein Hellseher sein, um darauf zu kommen, wen er für den Niedergang der SPD in den Milieus der „kleinen Leute“ verantwortlich macht: natürlich die SPD und Gerhard Schröders Agenda-Politik.

Butterwegge weiß, dass er bei der Abstimmung in der Bundesversammlung nur ein Zählkandidat sein wird. Aber er sieht sich nicht völlig chancenlos. Er sagt: „Frank-Walter Steinmeier steht für die in der SPD immer heftig umstrittene Agenda-Politik. Warum sollten mich also nicht auch Sozialdemokraten wählen? Ich vertrete als Kandidat der Linken schließlich auch traditionelle sozialdemokratische Positionen.“

Der Professor wirkt nur auf den ersten Blick zurückhaltend, eigentlich hält er sich für einen verkannten Politiker, den die Umstände davon abgehalten haben, auch in der Politik Karriere zu machen. Manchmal schlägt er mit beiden Handkanten auf den Tisch, seine Stimme kann sehr engagiert klingen, dann sticht der Mittelfinger weit abgespreizt durch die Luft, um seine Thesen zu unterstreichen.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) soll im Februar Bundespräsident werden - und muss gegen einen ehemaligen Sozi antreten.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) soll im Februar Bundespräsident werden - und muss gegen einen ehemaligen Sozi antreten.

© dpa

Als der Anruf aus der Fraktionsspitze der Linken kommt, formuliert Butterwegge selbst Bedingungen. Es dürfe keine anderen Linken-Kandidaten geben, er müsse von allen Flügeln gewollt sein. Er bespricht es mit seiner Frau, die selbst bei der Linken in Nordrhein-Westfalen auf Listenplatz 5 bei der kommenden Wahl im Mai für den Landtag kandidiert.

Butterwegges Argument für eine Kandidatur: Ab Februar sei ja sowieso alles wieder vorbei. Er hat ein wenig Sorge, dass sein Ruf als Buchautor durch die Kandidatur leidet. Außerdem will er sich eigentlich verstärkt um die Familie kümmern. Die Tochter ist acht, der Sohn noch ein Baby, das die Eltern selten durchschlafen lässt. Seinen Vater hat Butterwegge erst mit 20 Jahren kennengelernt. Auch das steckt in ihm drin: Er will als Vater da sein.

Aber er ist auch eitel genug, um zu glauben, er könne Politik vielleicht doch mit seinen Positionen verändern. Er wünschte sich einen „Aufbruch“ wie einst 1969 unter Willy Brandt. Er sieht sich als ein Signal für ein rot-rot-grünes Bündnis. Und er sagt: „Nur ein linkes Bündnis kann für politische Aufbruchstimmung sorgen, die nötig ist, um den Höhenflug der AfD zu stoppen. Wir müssen abgehängten und bedrängten Menschen neue Hoffnung geben. Das würde ich auch als meine Aufgabe ansehen.“

Er flüstert: Ich bin ja selbst ein Polarisierer

Versöhnung zwischen den gesellschaftlichen Gruppen war bisher allerdings eher keine Aufgabe, der er sich angenommen hätte. In seinem jüngsten Essay „Armut“, das als Buch im PapyRossa-Verlag erschienen ist, rechnet er im Prinzip mit allen gesellschaftlichen Gruppen ab, die nicht arm sind oder in der Gefahr stehen, in Armut abzurutschen. Selbst die Linke kommt nicht gut weg, Butterwegge kritisiert die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens scharf, weil es, wie er findet, „das Problem der öffentlichen Verarmung verschärft“.

Erst am Ende des Büchleins lässt er durchblicken, worin der Ausweg aus seiner selbst beschriebenen Ausweglosigkeit bestehen könnte: Butterwegges Idee der Bürgerversicherung haben SPD, Linke und Grüne in Ansätzen selbst in ihrem Programm. Er sagt: „Die solidarische Bürgerversicherung, mit der man unseren Sozialstaat weiterentwickeln und wieder auf ein festes Fundament stellen kann, ist eine ideale Brücke für alle drei Parteien, um zueinanderzufinden.“

Kompensatorische Gerechtigkeit nennt Butterwegge seinen Politikansatz, der nichts anderes bedeutet als die Aufforderung, mehr zugunsten der sozial Benachteiligten umzuverteilen. Er hält diesen Ansatz weder für illusorisch noch für naiv, sondern für konstitutiv: „Parlament, Regierung und Verwaltung haben das zu gewährleisten, weil es das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes gibt.“

Wenn er also wirklich dürfte, er wäre ein sehr lauter Bundespräsident. Bisher habe noch kein Staatsoberhaupt in einer Rede auf Deutschlands tiefe Spaltung hingewiesen. Vielleicht liegt es daran, dass vor allem er diese „tiefe Spaltung“ sieht und als immer bedrohlicher tituliert. Bei ihm, davon kann man ausgehen, stünde das Thema im Mittelpunkt, damit es, wie er sagt, „endlich die ihm gebührende Aufmerksamkeit erlangt“.

Christoph Butterwegge beklagt in dem langen Gespräch an der Humanistischen Fakultät zu Köln, wo er im August emeritiert ist, aber noch immer Examensprüfungen abnehmen muss, Diffamierung, Polemik und Hass. Er sagt, dieses alles zu schüren, gehöre zum Geschäftsmodell der Rechtspopulisten und der AfD. Er klingt sehr erregt an dieser Stelle. Dann hält Butterwegge kurz inne, flüstert, als wolle er nur mit sich reden, und murmelt dabei: „Bin ja selbst ein Polarisierer.“

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